Mehr Meer wagen und MAKE DIGITAL REAL AGAIN - was sie die Eventwirtschaft jetzt von der Radiotheorie Bertolt Brechts lernen kann und angesichts der Krise auch sollte.
Let me show you something
Zeiten der Krise sind nicht nur Zeiten der Chance, sondern vor allem der Allgemeinplätze. Der Grad zwischen gut gemeinten Ratschlägen, inspirierenden Betrachtungen und oft zitierten Platitüden ist dabei nicht selten ein äußerst schmaler. Ob nun Krise, Chance oder beides: Zeiten wie die aktuelle sind defacto für alle Berufssparten der Live Entertainment-Branche und Veranstaltungswirtschaft (sowie vieler anderer Dienstleistungssparten) eine bisher unbekannte existentiellen Bedrohung. Verschärft wird die Lage noch durch den Umstand, dass offenbar niemand seriös prognostizieren kann, wann mit einer wie auch immer gearteten Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Normalität zu rechnen ist. Anders formuliert: eine gesamte Branche muss warten. Und wer nicht wartet, der streamt was er macht. Leider.
Angesichts von Social Distancing, #stayathome und Ausgangsbeschränkungen ist es ziemlich schnell ziemlich voll geworden im digitalen Raum. Ob Videokonferenzen, Zoom-Meetings oder Live-Streams von Ereignissen aller Art - plötzlich scheinen Tools Verwendung zu finden, die zwar seit längerer Zeit zur Verfügung standen, aber jetzt erst aus nachvollziehbaren Gründen in den alltäglichen Mainstream Eingang finden. Nur: auch davon hat die Eventwirtschaft nicht viel, denn ihr Wesenskern ist doch das gemeinsame, reale Erleben. Einen Event macht man, um Menschen an einen bestimmten Ort zusammenzubringen, um sie gemeinsam etwas erleben zu lassen, dass sie idealerweise auch körperlich erfahren können - so, ganz grob, die Standarddefintion. Dass das nur bedingt digitaltauglich ist liegt auf der Hand - ist aber auch der Kern des Problems. Wer auf das körperliche und örtliche Erlebnis fokussiert, reduziert gleichzeitig die Vermittelbarkeit. Das mag ein Grund sein, warum sich die Veranstaltungswirtschaft traditionell schwer damit tut, digitale Assets mit einem nennenswerten Mehrwert in die Planung und Gestaltung von Events zu integrieren. Oft genug hält jemand seine Veranstaltung schon für digital, nur weil sie auch auf Facebook gepostet wird, weil das Publikum live voten darf oder weil sie eben auch im Internet gestreamt wird. Nur hat das in Wirklichkeit mit Digitalität nicht viel zu tun - vielmehr macht man das Ereignis zu einer Insel, auf die man zwar hinschauen kann, die man aber nicht bereisen kann. Alles, was Events dabei ausmacht - die Begegnungen, das Live-Erlebnis vor Ort, das Erfahren von Zeit als linearer Dauer - wird dabei zu einer schlechteren TV-Sendung: you can look, but you can not act. Als abgeschottete Einheit in einem Meer an Ereignissen kann man dabei eigentlich nur untergehen. Das ist doppelt schade, da das Handwerk des Eventmanagers vieles bereit hielte, was die Gestaltung von digitalen Erlebnissen zu spannenden Begegnungen machen könnte.
Make digital real again
In den späten 1920ern hat Bertolt Brecht seine Radiotheorie formuliert. Im Wesentlichen regt er dabei an, den Rundfunk nicht als Distributionsapparat, sondern als Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens zu begreifen. Das wäre allerdings nur möglich, so Brecht, „wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“ In den letzten 20 Jahren wurde Brecht’s Ansatz naheliegenderweise oft auf den digitalen Wandel bezogen, mit dem Internet als idealem Dispositiv zur Realisierung der Theorie. Unabhängig davon, ob man Rundfunk und Internet nun attestieren mag, dieses Potential wirklich ausgeschöpft zu haben, lohnt es sich für die Eventwirtschaft sich mit dem Ansatz zu beschäftigen. Wenn nämlich ein Medium (oder Format) wie Events und Live-Veranstaltungen ihren Kern nach von real erlebbarer Interaktion zwischen Menschen bestimmt werden, ist die zielführende Frage nicht die, wie ich Interaktionen am besten durch ein weiteres Medium übertragen (im Sinne von: an nicht vor-Ort-Dabeiseiende vermitteln) kann, sondern vielmehr, wie ich weitere offenkundig interaktionsfähige Medien zum Teil der eigenen Interaktion machen kann. Dazu braucht es aber einen umfassenderen Zugang zu Dramaturgie und Scripting von Events: um die Möglichkeiten digitaler Interaktion in Veranstaltungsformate zu integrieren (und dabei zu einem echten Mehrwert machen) zu können, geht es weniger um Formen der Präsentation als um Wege der Partizipation. Nicht: wir zeigen euch etwas, sondern: wir teilen uns etwas.
Genauso wie Veranstaltungen ihrem Wesen nach einer genuinen Dramaturgie folgen, wohnt auch allen Präsenzen im digitalen Raum und den Sozialen Netzwerken eine eigene narrative Logik inne. Wer diese für Erlebnisse nutzbar machen möchte, sollte sie nicht (s)einer Eventdramaturgie unterordnen, sondern bei der Gestaltung von Erlebnissen als gleichberechtigte Assets annehmen. Das ist im wahrsten Sinn des Wortes Kopfsache: es geht nämlich nicht darum, Ästhetik oder Interfaces der Präsenzen zu verwenden oder gar zu imitieren, sondern vielmehr darum die Art und Weise, wie Facebook, Instagram & Co in den Gedanken des Publikums Geschichten entstehen lassen als dramaturgische Logik zu begreifen. Wer das in seine eigene Live-Erzählung einbinden kann, erweitert nicht nur die Möglichkeiten, einander zu begegnen, sondern bekommt eine nahezu unendliche reale Welt, in der auch virtuelle Erlebnisse in eine reale Wirklichkeit führen - nämlich im Kopf der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ganz unabhängig davon, ob sie physisch vor Ort sind oder nicht. Dafür muss man nicht zwingend runter von seiner Insel, ganz im Gegenteil - auch jedes geistige Erlebnis braucht seinen Ort. Aber man sollte unbedingt das Meer, das einen dort umgibt, ebenso als Raum seiner Story begreifen - als fließendes Netzwerk, das potentiell und jederzeit gemäß seiner Logik zum Schauplatz einer Idee werden kann, die früher oder später an meinen Strand gespült wird. Wann, wenn nicht jetzt?
QUELLEN:
Der Sänger, Komponist und Poet hat nicht nur die Liedkultur des 20. Jahrhunderts für
komplexe Lyrik geöffnet - er hat auch vor vielen anderen verstanden, dass Gattungen nicht von ihren Grenzen, sondern von ihren Schnittmengen mit anderen Gattungen leben. "Anything I can sing, I
call a saong. Anything I can't sing, I Call a poem", sagt Dylan in diesem Kontext.
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